Vom Auftauchen und Verschwinden

Ende und Beginn der Tonalität – Der Kreis schließt sich

Der momentane kulturelle und diskursive Zustand der bürgerlichen Gesellschaft stellt sich zumindest in ihren Zentren und Metropolen so dar, dass auf einem bestimmten Niveau allgemeiner Zugang zur Auseinandersetzung möglich ist. Ein jedes kann auf einer bestimmten gesellschaftlichen Ebene absondern, was Meinung genannt wird. Zwar muss dabei in Kauf genommen werden, dass diese Meinungsfreiheit ohne jede Konsequenz ist, zumindest so weit, wie bestimmte Aussagen nicht kriminalisiert werden. Abgesehen davon ist es nahezu staatsbürgerliche Verpflichtung, vor einem unter die Nase gehaltenen Mikrophon und unter Hinzufügung der Formel: „Das ist meine Meinung“, mehr oder weniger Konsistentes von sich zu geben, wie blöd es auch sein mag.

Was im ersten Ansehen zynisch klingen mag, ist es in Wirklichkeit in keiner Weise. Ich habe früher in dieser Serie darauf hingewiesen, dass die avantgardistische Pose (in Kunst wie auch in Politik) darauf abstellt, die bestehenden Verhältnisse dadurch zu zerstören, dass ihnen ihre hierarchische Legitimation und Autorität abgesprochen wird. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sollen in Frage gestellt werden, indem alle und ein jedes darauf Zugriff haben. Allerdings kann dieses zerstörerische Unterfangen nur so lange funktionieren, wie es mit den entsprechenden aufrührerischen Inhalten einhergeht. Anders gesagt, H. C. Artmanns „acht-punkte-proklamation des poetischen actes“, „dass man dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein wort geschrieben oder gesprochen zu haben“, ist nur dann gültig und von Einfluss, so lange die Dichtung sich der schöpferischen Kraft von Neuem bewusst ist.

Negativ ausgedrückt: Wenn sich die Aussage, alle und ein jedes könne DichterIn sein, darauf beschränkt, dass sie in Stammbuch- und Stammtischdichtung schon erfüllt sei, dann haben wir es lediglich mit demokratischer Pflichtübung zu tun, nicht aber mit einer poiesis zur Erschaffung neuer Verhältnisse. Wenn die Verweigerungshaltung aufgegeben wird, DichterIn zu sein, ohne je zu schreiben, wenn diese „poietische“ Haltung sich in der Praxis und Ästhetik der Kurse für kreatives Schreiben erschöpft, können wir neuen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Zerstörung der alten getrost Ade sagen.

Ich habe auch im Zug dieser Serie davon geschrieben, dass diese zerstörerische Haltung der Avantgarde in der Musik sich auf akademische Kreise beschränkte und nicht den Anspruch auf Allgemeinheit vertrat. Der Anspruch auf Veränderung war eher in der Musik zu finden, die unter dem Kuratel der proletarischen Massenorganistationen oder deren Staatsmacht stand. Dort machte sich die Forderung nach Allgemeingültigkeit in einem Bildungsauftrag für das Volk geltend, das an die bürgerlichen Kulturstandards herangeführt werden sollte.

Auch die Pop- und Rockmusik birgt ein Moment von Allgemeinheit, verbunden mit Unterklassenpathos, working class heroism und wenigstens teilweise politischem Engagement. Doch dass innerhalb der rebellischen Jugend in den Metropolen die Anzahl der dilettierenden Bands (in kodifizierter Zusammensetzung: zwei E-Gitarren, ein E-Bass, ein Schlagzeug, ein Sänger mit oder ohne Gitarre) stark zunahm, war nicht nur ein symbolisches Zeichen aufrührerischer Kunst- und Politikpraxis, sondern ebenso gut dem affirmativen Glauben an die ideologisch wichtige Erzählung geschuldet, dass es alle und ein jedes schaffen könne: Vom Tellerwäscher zum Millionär war der Traum auch all dieser Musikgruppen, der im übrigen in der Folge durch den Terror der casting shows zum Massenspektakel werden sollte.

Dass sich Allgemeinheit über sozialistischen Bildungsauftrag (der sein proletarisches Zielpublikum mit der Klassik und Romantik und mit national-musikalischer Pädagogik vertraut machte) und über das Erfolgsversprechen der Unterhaltungsindustrie herstellte (die formal in der Popkultur über das Strophenlied nie hinauskam und mit elaborierteren Formen wie Installationen oder Aktionismus nicht anfangen wollte und sie aus ihrem Produktionshorizont verbannte), führte zu einer Festigung der Position von ursprünglichen konservativen Elementen der Musik (formal wie inhaltlich): Dur-moll-System, Funktionsharmonik, Tonalität, Abwehr von so genannten Dissonanzen, die nur als tonale Effekte Verwendung finden dürfen, Aufführungspraktiken, deren Diskurse zu neuer Klassizität führen, und Ähnliches. Diese Dominanz aber hat ihre Auswirkungen.

Der Druck der Musikindustrie (Veranstaltungs- und Reproduktionsunternehmen, ohnehin oft desselben Konzerns) hat dazu geführt, dass der vorgebliche Wunsch des Publikums (in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Entwicklung, die die Aufgabe von Veränderungen bedeutet) eine zeitgenössische Musik entstehen lässt, die wieder „schön“ ist. Damit verbunden ist die Rehabilitierung des Konzertsaals und des Festivals, bei dem BildungsbürgerInnen, connoisseurs und Kennerinnen sich ein Stelldichein geben und KomponistInnen dem Publikumsgeschmack willfährig oder resigniert nachkommen – dem Geschmack eines Publikums, das von seiner revolutionären Herkunft, die sie noch zu Zeiten Beethovens oder auch – horribile dictu – eines Richard Wagners kannte und pflog, heutigentags nicht mehr weiß und auch vom avantgardistischen Aufbruch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr wissen will.

Lasset uns singen, tanzen und springen (Werner Pirchner, ein halbes Doppelalbum)!